Die Zeit

Das Heiligtum der Hippies

Lange war sie ein Geheimnis. Diese Bucht auf Koh Phangan, in der Aussteiger aller Länder zusammen entspannen, feiern und ihr Bewusstsein erweitern. Aus ihrer Gemeinschaft ist ein Resort entstanden, wie es auf der Welt kein zweites gibt: “The Sanctuary”.

Von Kalle Harberg 4. Mai 2019

Vom Hippie-Versteck zum Hotel in Traumlage: Selbst aus der Luft sind die Dächer des “Sanctuary” nur schwer zu erkennen.
Mein Plan war perfekt. Ich hatte von einem Ort namens “The Sanctuary” gehört. Das Heiligtum. Ein ehemaliges Hippie-Versteck, eingenistet in einer entlegenen Bucht von Koh Phangan, das sich in ein esoterisches Wellness-Resort verwandelt hatte. Alex Garland schrieb der Legende nach in den Neunzigern an genau diesem Ort “The Beach”, den modernen Klassiker über eine Kommune von Backpackern, die in Thailand den perfekten Strand finden und daneben in utopischer Idylle leben – bis sie langsam verrückt werden. Das Heiligtum hatte Garland dabei möglicherweise als Vorbild gedient, auf mich wirkte es jedenfalls verrückt genug: Auf seiner Website wirbt das “Sanctuary” nicht nur mit Yoga und Pilates, komplexen Detox-Programmen und Spa-Paketen, sondern auch mit sonderbaren Heilverfahren wie “Schamanische Pflanzenessenzen des alten Mexikos”. Der Abschnitt über die Anfahrt trägt den Titel “Wegbeschreibung zum Paradies”.

Ihr wollte ich folgen und aus Eden eine Backstage-Story mitbringen. Ich nahm mir vor, unvoreingenommen zu bleiben, aber insgeheim wusste ich längst, dass es im “Sanctuary” nur so vor durchgeknallten Typen wimmelte. Ich würde mich neben sie vor die Wellen setzen und ihnen lauschen, wie sie über Harmonie mit Gaia predigten – und über das ganze verdammte System da draußen, Mann! Meine Geschichte würde ein Lehrstück sein über den Traum vom Leben am Strand, der so viele Aussteiger nach Thailand brachte, und der doch immer Gefahr lief, zum Albtraum zu werden. Sie würde einen zum Lachen bringen und dann zum Weinen. Verdammt, Mann.

Bis ins Paradies brauchte ich drei Flugzeuge und zwei Boote. Das erste, eine Fähre von Koh Samui nach Koh Phangan, berühmt für seine Vollmondpartys, war zum Bersten gefüllt mit Backpackern. Das zweite, ein Wassertaxi, das weiter zur Bucht Haad Tien fahren sollte, in der das “Sanctuary” liegt, ging kaum als Boot durch. Der Kahn schaukelte schon am Ufer beunruhigend in der Brandung. Ein Passagier sah die Nussschale und machte auf dem Absatz kehrt. “Kann ich ihm nicht verübeln”, sagte eine junge Amerikanerin zu ihrer Freundin. Da waren wir nur noch zu siebt – zwei Deutsche, zwei Franzosen, ein Engländer und die beiden Amerikanerinnen. Als der Kahn losbretterte, krallten wir uns an den Planken fest.

Das erste, was wir vom “Sanctuary” sehen, ist ein Ponton mit einer Hängematte. Wie ein Willkommensschild treibt er in der Bucht, die dahinter auftaucht. Steile Hänge links und rechts, dazwischen der Strand, gut hundert Meter lang, an einem Ende durchsetzt mit Felsen, am anderen durchschnitten von einem Bach, an dessen Mündung unser Kahn anlegt. Hier am Ufer befinden sich die großen Stätten des Heiligtums: das Detox-Center, der Spa-Bereich, ein kleiner Shop, der alles von Mückenspray bis Badehosen verkauft, und die Rezeption, in der ich den Schlüssel für meinen Bungalow abhole, der ein Stück durch den Dschungel den Hang hinauf liegt. Auf dem Tisch finde ich ein Booklet mit wichtigen Informationen. Nachts solle man immer mit Taschenlampe durch den Dschungel laufen, heißt es darin. “Wir teilen diese wunderschöne Umgebung mit Eidechsen, Skorpionen, Spinnen, Fröschen, Affen und anderen.” Erst einige Tage später werde ich merken, dass auch ich meinen Bungalow mit einer Ameisenkolonie teile, die den Nachttisch als Schnellstraße benutzt.

Nachdem ich im Paradies eingecheckt habe, treffe ich seine Manager. Die beiden Iren Mike Doyle und Nolan Dalby warten auf mich im Restaurant. Das liegt direkt am Strand, ein Rundbau mit Stühlen, Kissen und Hängematten, in denen Gäste den ganzen Tag Smoothies schlürfen und über die Wellen schauen. Die beiden sind die Chefs des “Sanctuary”, ich hatte sie von zu Hause um eine Einführung gebeten. Nolan lebt immerhin seit sechs Jahren am Strand, Mike sogar dreimal so lange. Er war schon hier, als das Paradies 1991 seine Pforten öffnete. “Der Anfang!”, raunt der 58-Jährige, als ich ihn danach frage, und gluckst ein bisschen.

“Vier Bungalows, ein kaputter Generator und, ja, ein Strand.” Nicht der schönste, aber er hatte einen gewissen Zauber für die beiden Gründer Jill und Steve, die Oshos Ashram im indischen Poona aufgesucht hatten und nun auf Koh Phangan ein Mini-Poona eröffnen wollten – “ein Zentrum für einen gesunden Lifestyle, Yoga, coole Leute und Selbsterforschung”, wie Mike es nennt. Er erzählt mir, dass er damals von einer israelischen Prinzessin – “in meinen Augen!” – zur Einweihungsparty eingeladen worden sei. Mit ihr sei er von Haad Rin an der Südküste durch den Dschungel bis zur Bucht gewandert. “Ich werde nie vergessen, wie ich durch diese Steine lief und das Gefühl hatte, durch eine Membran von Energie zu treten. Ich dachte: “Wow, mit mir ist gerade etwas passiert.” Und ab diesem Moment hat sich mein Leben verändert.”

Als die Party nach drei Tagen endlich zu Ende war, holte Mike in Haad Rin nur seinen Rucksack, bevor er zum Strand zurückkehrte. Drei Monate blieb er – das erste Mal. Danach kehrte der gelernte Krankenpfleger, der irgendwie in Brunei gelandet war, wo er für die Familie des Sultans ein privates Krankenhaus aufbauen sollte, so oft zurück, dass Jill und Steve ihn schließlich fragten, ob er das Heiligtum nicht übernehmen wolle. Also zog Mike an den Strand. Seitdem habe es nie einen echten Plan gegeben, wie das “Sanctuary” wachsen solle, mit der Zeit habe es sich einfach weiterentwickelt.

Das Detox-Center, der Spa-Bereich, moderne Bungalows. Es sei schließlich schwierig, ein Hippie-Versteck geheim zu halten, ergänzt der 44-jährige Nolan, also habe man erwachsen werden müssen. “Vor zehn Jahren hieß es noch: Shh, erzähl keinem von diesem Ort! Aber jetzt sind wir ein echtes Resort. Also erzähl es allen!” Und trotzdem sei das “Sanctuary” immer noch viel mehr als nur ein Hotel, sagt Mike. “Es ist ein Portal für Menschen, um ein anderes Bewusstsein zu erlangen. Über ihr Essen, ihren Körper, ihr Leben.” Nach wie vor gibt es Besucher, die das “Sanctuary” verlassen, aber am Flughafen plötzlich umdrehen und zurückkehren. Menschen, die zwei Wochen buchen, aber drei Monate bleiben, manchmal auch gar nicht mehr gehen.

Am nächsten Tag besuche ich “The Gathering”, die Versammlung. Mike hatte mir am Ende unseres Gesprächs dazu geraten, so viel wie möglich im Heiligtum auszuprobieren. Bei dem wöchentlichen Treffen stellen die Heiler ihre Behandlungen vor. Alle versammeln sich im Teetempel, einem Gartenhaus im Rücken der Bucht, wo das “Sanctuary” an ein kleines Dorf grenzt. Wir Gäste hocken auf orangefarbenen Kissen und lauschen. Eine Heilerin bietet indische Kopfmassagen an, eine andere Reinkarnationstherapie – “es ist wunderschön zu wissen, wo wir herkommen, denn im Moment laufen wir alle wie kopflose Hühner herum”.

Zum Schluss fragt eine Masseurin für ihre Vorführung nach einem Freiwilligen. Die Hand des waschbrettbäuchigen Yogis neben mir schießt so schnell in die Höhe, dass ich schwören könnte, er wusste die Frage schon vorher. Zuerst bittet die Masseurin den Himmel um Energie, dann reibt sie seinen Unterleib und zischt dabei leise. Alle anderen sehen schweigend zu. Um die Gifte aus seiner Leber zu drücken, müsse auch er jetzt zischen, erklärt sie dem Yogi. Also zischt er. Wir anderen schweigen weiter.

Ich entscheide mich, diese Behandlung auszulassen. Andere probiere ich dafür aus. Zum Beispiel die “Schamanische Klangheiligung” im “Sound Dome”, einem gefliesten Bungalow, der an ein Iglu erinnert. Der französische Schamane darin stellt zu Beginn seine Instrumente vor. Seine Trommeln, seine Flöten, seine Krüge aus Kristallglas, von denen einer das Bild einer ägyptischen Göttin trägt. “Wow!”, staunt die Frau neben mir, als habe sie noch nie etwas so Wertvolles gesehen. Dazu werde er singen, sagt der Schamane, vielleicht in seiner Stimme, vielleicht in einer anderen. “Aber als Erstes spiele ich etwas von meinem iPhone.” Und während wir uns auf die Matten legen, knistert aus seinem Smartphone ein Chor tibetanischer Mönche.

In eine deutlich tiefere Trance versetzt mich der Fünf-Elemente-Tanz. Er findet bei Sonnenuntergang in einem Dschungelpavillon statt. Ein Kreis aus Teelichtern brennt in der Mitte, ätherische Musik strömt aus einem Lautsprecher. Wir sind gut ein Dutzend Tänzer und schleichen schüchtern über das Parkett – während Heilerin Daisy von einer mächtigen Pose in die nächste fließt. “Lasst uns erforschen, wie wir uns verbiegen können!”, ruft sie. “Wie groß wir werden können!” Aber schon nach ein paar Liedern macht Daisy sich klein und hockt sich neben die Teelichter. Zeit für die Kakaozeremonie, sagt sie. Mit der Frucht verhalte es sich wie mit der Liebe. Das weiße Fleisch sei süß, die dunkle Bohne darin bitter. Es brauche Zeit und Arbeit, sie zu vollem Geschmack zu bringen. “Wenn ihr ihn gleich ausschüttet, dann stellt euch vor, wie eure Herzenswünsche den Kakao heiraten.”

Daisy reicht die Kanne herum. Während wir trinken, sollen wir uns vorstellen: Wie wir heißen, wofür wir dankbar sind und welches Geschenk wir der Gruppe geben können. Ich habe den Fehler gemacht, mich direkt neben Daisy zu setzen. Sie sieht mich als Ersten an. Ich gehe auf Nummer sicher: Mein Geschenk sei die Neugier, mit der ich an dieser Zeremonie teilnehme. Die anderen Tänzer sind kreativer. Eine Frau schenkt ihre “Besinnung”, eine andere ihre “Hoffnung”, und ein schwules Pärchen, das nur in Boxershorts gekleidet dasitzt und Händchen hält, sagt, sein Geschenk sei “die Liebe”.

Und dann tanzen wir weiter. Wenn das Lied wechselt, ruft Daisy das Element, das zu dem neuen Rhythmus passt. Bei Erde stampfen wir stärker, bei Wasser drehen wir uns. Bei Luft laufen wir wie auf Zehenspitzen und bei Feuer fliegen unsere Arme über die Köpfe. Aber eigentlich ist es egal, welches Element Daisy ansagt – wir tanzen ausgelassen, ganz anders als zuvor. Von außen betrachtet, müssen wir aussehen wie eine Mission betrunkener Astronauten. Aber es fühlt sich grandios an. Zum Schluss umarmen wir uns alle. “Eure Brüder und Schwestern haben für euch getanzt, wie ihr für sie”, sagt Daisy zum Abschied. Und wir lachen, geschafft, aber glücklich.

Ich weiß, wie sich das alles anhört. Aber die Wahrheit ist: Das “Sanctuary” ist längst nicht so schräg, wie ich erwartet hatte. Die meisten Gäste sind junge Frauen, aber am Strand sonnen sich auch Pärchen, im Restaurant spielt eine Familie Karten. Natürlich gibt es auch Exzentriker – einmal treffe ich eine zierliche Frau namens “Elf”, die eine Daune in ihr Haar geflochten hat und “Federn macht”, wie mir erzählt wird. Die Worte “Energie”, “Gift” und “Reise”, auf der wir doch alle sind, fallen in Gesprächen unverhältnismäßig oft. Aber die Stimmung passt mehr zu einer entspannten Klassenfahrt als zu einer esoterischen Kommune. Auf den Wegen grüßt man sich, egal ob man sich kennt, und wenn morgens das Boot zurück nach Koh Samui fährt, stehen am Strand manchmal Gäste und winken neuen Freunden hinterher.

Am meisten faszinieren mich die Menschen im Heiligtum, die, wie Mike erzählt hatte, für einen Urlaub gekommen und einfach geblieben sind. Die auf unbestimmte Zeit am Strand leben. Sie strahlen eine Wärme aus, die entwaffnend ist. Die Yogalehrerin, die jeden sofort “Liebling” nennt und die fest daran glaubt, dass sie dazu bestimmt war, an diesen Ort zu kommen: “Nicht viele finden ihren Weg hierher. Aber wenn doch, dann gibt es dafür immer einen Grund.” Der Engländer, der seinen Posten als Professor in einem Land am Persischen Golf gekündigt hat – welches, will er nicht sagen, falls er doch wieder zurück muss – und sich für einige Monate am Strand einquartiert hat: “Du wirst als Teil einer Familie von offenen, guten Menschen akzeptiert. Ein Arschloch triffst du hier nie.” Oder Daisy, Gebieterin über den Fünf-Elemente-Tanz, die eigentlich nur für eine Party in die Bucht gekommen war. 17 Jahre ist das her. “Das Herz dieses Ortes ist individuelle Metamorphose”, erzählt sie, als ich sie beim Abendessen treffe. “Es ist geradezu unmöglich, hierherzukommen und als der selbe Mensch wieder zu gehen.”

Auch Ema weiß das. Die Schauspielerin war eine andere, als sie vor drei Jahren ins “Sanctuary” kam. Zu Hause in Rumänien erlitt sie einen Schädelbruch, war 16 Minuten klinisch tot. Sie habe das Licht gesehen, die Verbindung zum großen Ganzen gespürt, was man immer so höre, erzählt mir die heute 29-Jährige. Und dann sei da dieser Junge an ihrer Seite aufgetaucht und habe sie zurückgebracht.

Als Ema wieder in dieser Welt aufwachte, suchte sie überall nach ihm – und fand ihn ausgerechnet in einem Massagesalon in dieser Bucht von Koh Phangan. In dem Moment, in dem die Masseurin ihren Bauch berührte, habe sie ihn auf einmal gesehen: den Jungen, ihren Jungen, der in einem ihrer vorigen Leben sein eigenes verloren hatte. So begann ihre Reise in vergangene Leben. Heute bietet sie im “Sanctuary” Reinkarnationstherapie an. Sie ist die Heilerin, die beim “Gathering” gesagt hatte, wir würden alle wie kopflose Hühner herumlaufen.

Es gibt im ganzen “Sanctuary” nichts, das mir esoterischer vorkommt. Also buche ich eine Sitzung. “Wunderbar!”, entgegnet der Zeitreisende vor mir, als ich ihn frage, wie seine Behandlung gelaufen sei. Er strahlt so selig, dass es mich ein wenig schaudert. Hinter ihm taucht Ema auf und führt mich in einen kleinen Bungalow. Der Strom ist gerade ausgefallen, die Klimaanlage schweigt, die Luft ist unerträglich dick. Nach einer kurzen Meditation bittet mich Ema, auf eine Liege zu klettern und mir eine Schlafmaske über die Augen zu ziehen. Falls ich gleich weinen müsse, habe sie Taschentücher. Falls ich schreien müsse, könne ich in die Kissen brüllen. “Fühlt sich an, als ob ich ins All fliege”, sage ich nervös. In gewisser Weise täten wir das auch, antwortet sie.

Ich bin so darauf gefasst, dass nichts passieren wird, dass es mich völlig unvorbereitet trifft, als doch etwas geschieht. Emas Stimme führt mich eine Wendeltreppe hinunter. Wenn sie mit ihren Fingern schnipst, taucht eine Erinnerung auf. Ich komme von meinem ersten Schultag nach Hause. Tiefer. Ich sitze auf einem grünen Teppich, während meine Mutter kocht. Tiefer. Ich drehe mich im warmen Mutterleib. Tiefer. Und dann bin ich auf einmal – davor. Auf einem Schiff im Ozean. “Wie heißt du?”, fragt Ema. “Peter”, sage ich und staune. Das ist nicht mein Name.

Als ich Stunden später wieder die Wendeltreppe hochklettere, atme ich schwer. Ich ziehe die Maske ab und sehe Ema lächeln. Die meisten gingen beim ersten Mal nicht zurück in vorige Leben, sagt sie, es gebe für sie zu viel in diesem zu erforschen. “Aber du bist sofort eingetaucht.” Bin ich das? Waren die Bilder in meinem Kopf wirklich ein Schimmer meiner unsterblichen Seele – oder doch nur ein Splitter meiner eigenen Vorstellungskraft? Ich weiß es nicht. Es brauche viel Erfahrung, sagt Ema, um die Visionen von den Träumen zu trennen. Ein bisschen wie beim “Sanctuary” selbst, denke ich, während ich zurück zu meinem Bungalow laufe. Von außen hatte es wie ein weltfremder Traum gewirkt, aber für die Hüter des Heiligtums ist er Realität. Ihre wahr gewordene Vision vom Paradies. “Dieser Ort ist wie eine Mutter”, sagt Ema, als wir uns verabschieden. “Er pflegt dich. Egal, wie kaputt du hier ankommst, am Ende kannst du wieder fliegen.”

Ich verlasse das Paradies nach sieben Tagen. Und als ich im Boot sitzend spontan meine Hand hebe, ist mir, als könne ich am Strand jemanden zurückwinken sehen, bevor die Bucht hinter den Wellen verschwindet.